Süddeutsche Zeitung
8. Februar 2014 11:43
Proteste in Bosnien-Herzegowina
Staatspräsidium in Sarajevo gestürmt
Das Gebäude der Kantonalregierung in Sarajewo in Flammen.
"Das sind die Kinder der Eltern, die kein Geld für Brot
haben": Wütende Demonstranten haben in Sarajevo das Präsidialamt
angezündet und eine "politische Revolution" gefordert. Streitpunkte
sind nicht nur die hohen Einkommen der Politiker.
Nach den schweren Ausschreitungen in Bosnien-Herzegowina
haben die Demonstranten am Samstag eine "politische Revolution"
gefordert. Demnach sollen beispielsweise die Einkommen aller Politiker an den
äußerst niedrigen Durchschnittslöhnen im Land ausgerichtet werden. In einem
Fünf-Punkte-Katalog verlangen die Demonstranten außerdem, dass die
"kriminellen Privatisierungen" der Staatsbetriebe rückgängig gemacht und
"Wirtschaftskriminelle" vor Gericht gestellt werden.
Die Ausschreitungen seien "kein Staatsstreich",
sondern "ein Schlag des Volkes gegen die staatliche Mafia",
analysierte Innenminister Fahrudin Radoncic die Proteste: "Das sind die
Kinder der Eltern, die kein Geld für Brot haben".
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen hatten sich am
Freitag zugespitzt: In der Hauptstadt Sarajevo setzten aufgebrachte
Demonstranten am Freitagabend das Präsidentschaftsgebäude in Brand. In Tuzla im
Nordosten des Landes stürmten etwa 100 Vermummte den Sitz der
Regionalverwaltung und legten Feuer in dem Gebäude. Landesweit gab es etwa 150
Verletzte, davon 80 in Sarajevo und 50 in Zenica.
Die Flammen am Sitz der Präsidentschaft breiteten sich bis
zum zweiten Stockwerk aus, wie die amtliche Nachrichtenagentur Fena meldete.
Demonstranten hatten das Präsidentschaftsgebäude zuvor bereits mit Steinen
beworfen. Andere Demonstranten stürmten das benachbarte Gebäude der
Regionalregierung von Sarajevo, schlugen alle Fenster ein und legten auch dort
Feuer.
Die Demonstrierenden
fordern den Rücktritt der Regierung
In Tuzla drangen vermummte Jugendliche mit Abzeichen des
örtlichen Fußballklubs in das Gebäude der Regionalregierung ein, zerstörten die
Einrichtung und warfen Fernseher aus den Fenstern. Mehr als 5000 Demonstranten
applaudierten den Jugendlichen. Aus der ersten Etage des zehnstöckigen Gebäudes
drangen Flammen und dichter schwarzer Rauch. Hunderte Polizisten, die das
Gebäude zuvor gesichert hatten, zogen sich zurück. Sie riegelten stattdessen
ein Gebäude in der Nähe ab, in dem die Notdienste der Stadt untergebracht sind.
Einer der Anführer des Protests in Tuzla, Aldin Siranovic,
forderte in einer Rede an die Menge den Rücktritt der Regierung. "Sie
bestehlen uns seit 25 Jahren und zerstören unsere Zukunft", rief er.
Die größten Demos
seit dem Bosnienkrieg
Die Demonstrationen sind die größten seit dem Bosnienkrieg,
der von 1992 bis 1995 dauerte. Sie sind Ausdruck der Verzweiflung der Menschen
und ihrer Wut über eine vielfach korrupte Führungsschicht, die sich außerstande
zeigt, die verheerende Wirtschaftslage in den Griff zu bekommen.
Die Arbeitslosenquote in Bosnien liegt bei mehr als 44
Prozent. Nach amtlichen Angaben lebt ein Fünftel der 3,8 Millionen Bosnier in
Armut, viele leiden Hunger. Der durchschnittliche Monatslohn. In Tuzla, einst
ein wichtiger Industriestandort, gingen auch Beschäftigte von privatisierten
und Pleite gegangenen ehemaligen Staatsbetrieben auf die Straße, die seit
Monaten keinen Lohn mehr bekamen.
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