Samstag, 8. Februar 2014

Demonstranten fordern Revolution in Bosnien-Herzegowina

Der Standard (Austrija)


8. Februar 2014, 09:53


Mehrere Regierungsgebäude in Flammen - Staatspräsidium in Sarajevo gestürmt - "Kriminelle Privatisierungen" der Staatsbetriebe sollen rückgängig gemacht werden



Demonstranten in Tuzla warfen Dokumente aus den Fenstern eines Regierungsgebäudes...

 
Sarajevo - Was als Sozialprotest begann soll nach Wunsch der Demonstranten eine "politische Revolution" werden: Bosnien-Herzegowina ist am Freitag von den schwersten Ausschreitungen seit dem Ende des Bürgerkrieges erschüttert worden. Zehntausende Menschen waren im ganzen Land aus Protest gegen die ihrer Meinung nach unfähigen Politiker auf die Straße gegangen. Bei den Demonstrationen gegen Armut und Arbeitslosigkeit wurden mehrere Regierungsgebäude in Brand gesteckt, darunter auch das Staatspräsidium in Sarajevo. Allein in der Hauptstadt wurden 50 Menschen verletzt. Insgesamt wurde in 33 Städten demonstriert.
Die Ausschreitungen seien "kein Staatsstreich", sondern "ein Schlag des Volkes gegen die staatliche Mafia", analysierte Innenminister Fahrudin Radoncic die Proteste: "Das sind die Kinder der Eltern, die kein Geld für Brot haben".
In einem Fünf-Punkte-Katalog verlangen die Protestierer, dass die "kriminellen Privatisierungen" der Staatsbetriebe rückgängig gemacht und die "Wirtschaftskriminellen" vor Gericht gestellt werden. Auch die Einkommen aller Politiker sollen an den äußerst niedrigen Durchschnittslöhnen im Land ausgerichtet werden. Die Demonstranten fordern außerdem, dass nach dem Rücktritt der Regionalregierung in Tuzla nur parteilose Experten eine neue Regierung bilden. Die Stadt war am Freitag das Zentrum der Gewalt.

"Ruhe bewahren"

"Ich sehe aus meinem Fenster, wie Flammen aus dem Staatspräsidium aufsteigen", schilderte der internationale Bosnien-Beauftragte Valentin Inzko am Freitagabend die Protestwelle. Über Sarajevo stehe "schwarzer Rauch". Dennoch sei die Lage noch unter Kontrolle. Gebäude der Regionalregierungen in Tuzla und Sarajevo gingen in Flammen auf. Das bosnische Staatspräsidium wurde ebenfalls angezündet und verwüstet. Wertvolle Bestände des Staatsarchivs verbrannten.
"Wir werden die Lage in den nächsten Stunden beobachten", schloss Inzko ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft nicht aus. In Bosnien-Herzegowina sind 800 ausländische Soldaten stationiert, darunter 300 Österreicher. Inzko rief die bosnischen Bürger in einer Erklärung auf, "Ruhe zu bewahren". Das Oberhaupt der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien, Husein Kavazovic, betonte, dass die begründeten sozialen Forderungen der Demonstranten keine Gewalt rechtfertigen würden.
Der Vorsitzende des bosnischen Staatspräsidiums, Zeljko Komsic, beraumte am Freitagnachmittag eine Dringlichkeitssitzung des Gremiums an. Zugleich zeigte er sich unsicher, ob seine Amtskollegen - der Bosniake Bakir Izetbegovic und der Serbe Nebojsa Radmanovic - der Einladung auch folgen würden. Er sei sich nicht sicher, ob die bosnischen Institutionen überhaupt noch funktionieren. Einen Einsatz der Armee gegen die Unruhestifter schloss er aus. "Wie könnte man die Truppen gegen das eigene Volk einsetzen?"

Selbstkritik

Die bosnischen Politiker zeigten sich angesichts der Protestwelle selbstkritisch. "Wir tragen die ganze Schuld", sagte Komsic. Innenminister Fahrudin Radoncic sprach von einem "Tsunami", der durch die Ineffizienz der Politiker und Mängel bei der Korruptionsbekämpfung ausgelöst worden sei. Die Regierungen im bosnisch-kroatischen Landesteil hätten nämlich "nicht einmal ein Mindestmaß an sozialem Gefühl an den Tag gelegt", sagte er mit Blick auf die verbreitete Not im Land.
Komsic sagte, dass die Behörden bereits vor drei Tagen mit den Demonstranten in der Stadt Tuzla hätten reden müssen. Dort hatten die Proteste am Mittwoch begonnen. Sie richten sich gegen die Pleite von vier Betrieben, durch die 10.000 Menschen ihren Job verlieren würden. Inzko berichtete, dass die dortigen Arbeiter schon seit 54 Monaten keinen Lohn mehr bekommen hätten.

"Es lohnt sich nicht zu schweigen"

Unter dem Druck der Proteste traten die Regionalregierungen von Tuzla und Zenica am Freitagnachmittag zurück. In beiden Städten hatte der Mob die Regierungsgebäude gestürmt und in Brand gesetzt. In Tuzla waren am Donnerstagabend 130 Menschen bei Zusammenstößen verletzt worden. Regierungschef Sead Causevic bot den Protestierenden am Freitagvormittag ein Gespräch an, doch wollten sie sich nur mit seinem Rücktritt zufriedengeben. Zu Mittag versammelten sich 6.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude und stürmten es. Am Nachmittag wurde auch das Gemeinderatsgebäude in Tuzla angezündet.
"Es lohnt sich nicht zu schweigen, es wird nur noch schlimmer werden", war auf einem Transparent in Banja Luka zu lesen. Landesweit war bei den Protestkundgebungen der Ruf "Diebe, Diebe" zu hören. "Nehmt die Aasgeier fest", wurde in Sarajevo skandiert. In Mostar riefen 4.000 Demonstranten am Nachmittag: "Mostar ist erwacht!"

Arbeitslosigkeit

Die Proteste richteten sich gegen Arbeitslosigkeit, Armut und die mangelnden Zukunftsperspektiven in dem früheren Bürgerkriegsland. Offiziellen Statistiken zufolge sind in Bosnien-Herzegowina 45 Prozent ohne Job. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des blutigen Konflikts hat die Wirtschaft der früheren jugoslawischen Teilrepublik noch immer nicht Tritt gefasst. Zudem ist die Politik des Landes wegen der komplizierten Entscheidungsstrukturen und des Misstrauens unter den nationalistischen Politikern gelähmt.
Mit dem Friedensvertrag von Dayton im Herbst 1995 wurde eine Staatsstruktur mit mehreren Entscheidungsebenen geschaffen, die von einem internationalen Repräsentanten - seit 2009 Valentin Inzko - beaufsichtigt wird. Sie wird als ineffizient und korruptionsanfällig kritisiert. Das Land ist in zwei Einheiten - die Bosniakisch-Kroatische Föderation und die Serbische Republik - geteilt. Die Föderation ist zudem auf zehn Kantone aufgeteilt. Die Zentralregierung in Sarajevo hat kaum Zuständigkeiten, die für die Annäherung an die EU notwendigen Reformen kommen kaum voran. (red/APA, 7.2.2014)

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